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(K)ein ganz normaler Junge - Wandern im Wallis

Im September fragte ein Redakteur von Aktion Mensch an, ob wir uns vorstellen können, bei einer Folge Frag mich doch mitzumachen. In dieser auf dem YouTube-Kanal von Aktion Mensch veröffentlichten Serie geht es um alles, was mit Inklusion zu tun ... und machmal leider auch gar nix zu tun hat. Nach ein paar Vorgesprächen war klar, wir sind dabei und schon knapp drei Wochen später haben wir uns auf den Weg nach Bonn gemacht - einerseits ziemlich aufgeregt, andererseits mit der Gelegenheit, einmal öffentlich über unsere persönlichen Erfahrungen mit Pränataldiagnostik sprechen zu können. 

Wer Henri kennt, weiß, dass er wenig mitteilsam ist und flüssige Gespräche mit ihm eher die Ausnahme sind ;-). Dennoch, wir bleiben dran - so auch im Auto, als ich auf das Thema des Drehs zu sprechen komme. Ich sage Henri, dass es vor allem um Behinderung gehen wird und es schön wäre, wenn er auch mitspricht - und sich nicht mit dem Standard"satz" Keine Ahnung!  entzieht. Ganz schnell zeigt sich, dass Behinderung nun gar kein Thema ist, worüber er gerne sprechen würde. Ich versuche es mit einfachen Worten Aber du weißt schon, dass du behindert bist? Eigentlich war klar, wie die Antwort aussehen würde: Bin nicht behindert. Und dann sagt er uns, wie er sich selbst sieht (sehen möchte?!):

 

Ein ganz normaler Junge - sagt er wörtlich.

 

Wir reden dann auch noch über das Down-Syndrom, aber auch das haben andere Kinder und nicht er. Bestimmt gibt es LeserInnen, die einwenden, dass es nicht gut ist, mit dem Kind so offensiv über die Behinderung zu sprechen und vor allem auch, sie so zu benennen. Ich gehe soweit mit, dass Mensch mit Behinderung eine gute Alternative ist, aber es wäre doch völlig unnatürlich, wenn ich Henri fragen würde, ob ihm bewusst ist, dass er ein Mensch mit Behinderung ist? Im Rahmen dieses Blogeintrags habe ich im Internet recherchiert und ganz unterschiedliche Bewertungen zu dieser Frage gefunden. Raul Krauthausen,  (Wer ist das?), Inklusionsaktivist, empfiehlt übrigens behinderter Mensch, weil der Begriff auch im Sinne von wird behindert verstanden werden kann - dazu unten mehr. 

Als wir letzte Woche mit Henri im Fitnessstudio waren, hörte ich, wie sich zwei Menschen über die Arbeit in einem inklusiven Kindergarten der Lebenshilfe unterhielten. Immer wieder fiel Kinder mit Beeinträchtigung und Kinder ohne Beeinträchtigung - beide haben die Kinder in genau zwei Gruppen unterteilt: Die mit und die ohne Beeinträchtigung. Weil sie einen offenen Eindruck machten, habe ich nachgefragt, ob der Begriff behindert mittlerweile auch bei der Lebenshilfe obsolet ist. Nein, nein, antwortete mir die Auszubildende bei der Lebenshilfe, aber sie wolle mit Respekt von den Kindern sprechen und behindert sei irgendwie diskriminierend. Auch ihr Gesprächspartner sprach von Wertschätzung und dass er diese Kinder nie behindert nennen würde. Ich habe dann auch über meinem Standpunkt gesprochen und dass ich es Henri gegenüber keineswegs als respektlos empfinde, wenn ich jemandem von meinem Leben mit meinem behinderten Kind berichteHenri hat gleich mehrere Einschränkungen, die ihn im Alltag behindern - insofern würde auch Kind mit Beeinträchtigungen passen. Mir ist nur nicht klar, warum diese Bezeichnung respektvoller sein soll? Beide Begriffe beschreiben Defizite, die ihm das Leben im Vergleich zu dem nicht behinderter Kinder oft richtig schwer machen. Da gibt es aber noch ein andere Beschreibung, die ich von meiner Freundin, der Förderlehrerin kenne, auch wenn sie sie selbst ungern verwendet: Kinder mit besonderem Förderbedarf ... das ist richtig positiv :-), denn man könnte dieser Gruppe sogar die Hochbegabten zuordnen ;-). 

Je älter Henri wird und je mehr Erfahrungen wir mit ihm in einem oftmals nicht inklusiven Umfeld machen, umso mehr bin ich überzeugt, dass es wenig hilfreich ist, einfach den Begriff behindert für tatsächlich bestehende Einschränkungen verschiedenster Art durch einen anderen Ausdruck zu ersetzen in der Annahme, man bringe den betroffenen Menschen auf diese Weise mehr Respekt entgegen und wirke so gleichermaßen auch Diskriminierung entgegen. Es ist doch nicht das Wort behindert, das diskriminiert, sondern die Haltung den Menschen gegenüber. Den größten Dienst erweisen wir ihnen, wenn ihnen weitestgehende Teilhabe an einem Leben ermöglichen, das für Nichtbehinderte selbstverständlich ist. Ist es für einen Menschen im Rollstuhl nicht viel hilfreicher, wenn zum Beispiel Bahnhöfe und Züge endlich barrierefrei gestaltet werden als sie social correctness geschuldet Menschen mit Beeinträchtigung oder gar Menschen mit besonderen Fähigkeiten zu nennen? 

 

In den letzten Tage habe ich viele Artikel und Meinungen lesen und mir auch Videos von Betroffenen angesehen, die sich alle mit der Frage beschäftigen, welche Bezeichnungen für einen Menschen mit Behinderung am passendsten und vor allem nicht diskriminierend ist. Klar nennt man sie am besten beim Namen ;-) (wie es in einem Cartoon vorgeschlagen wird) - aber es gibt doch ständig Situationen, in denen der Name leider nicht ausreicht, um den in diesem Fall entscheidenden Aspekt zu verdeutlichen. Wenn mich jemand fragt, warum ich abends keine Termine mache, ist es für den Fragenden nicht gerade einleuchtend, wenn ich sage, dass mein Sohn Henri heißt und 17 Jahre alt ist. Dagegen versteht jeder den Hinweis,  dass er Down-Syndrom hat oder (für diejenigen, die den Begriff nicht kennen) behindert ist und daher - auch wenn er schon 17 ist -  am Abend Hilfe braucht und nicht alleine Abendbrot macht und im Anschluss zu einer angemessenen Zeit zu Bett geht. Natürlich sind die meisten, die uns als Familie nicht kennen, erst einmal betroffen und Rückfragen sind selten. Aber sie wären nicht weniger irritiert, betroffen oder machmal auch geschockt, wenn ich sagen würde, Henri sei ein Kind mit Beeinträchtigung / ein Kind mit besonderem Förderbedarf / ein Kind mit besonderen Fähigkeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur bei einem einzigen, dem ich von Henri und unserem Leben mit ihm erzähle, der Eindruck entsteht, ich hätte keinen Respekt vor ihm. Das ist keine Frage der Wortwahl - und selbst wenn ich Downie sage, spüren doch alle meine Liebe und Verbundenheit mit meinem Kind. 

 

Ich verlinke einen Blogartikel von Raúl Krauthausen, in dem er seine Gedanken zu dem vermutlich gut gemeinten Satz Ich sehe dich gar nicht (mehr) als Behinderten. beschreibt. Er schreibt: Immer wieder versuchen Menschen, oft Menschen ohne Behinderungen, mich von meiner Behinderung zu trennen. ... Wenn man solche Dinge zu mir sagt, dann ist es wahrscheinlich gut gemeint. Oder vielleicht denkt man, es wäre nett und motivierend. Aber ich empfinde es nicht so. Im Gegenteil. Meine Behinderung beeinflusst mich immer und überall. Ich kann (und will) sie nicht einfach ablegen, wie ein unbequemes Hemd oder einfach ignorieren, wenn ich vor einer Stufe stehe. 

 

Rauls Behinderung ist keine kognitive (geistig sagt man nicht mehr, wie ich seit ein paar Tagen weiß), dennoch empfinde ich es bei Henri ähnlich. Nur, dass nicht Treppenstufen, sondern andere Hürden (kognitiver und leider auch sozialer Art), ihn immer und überall beeinflussen. Mir spricht der Artikel aus der Seele und ich würde gerne noch mehr daraus zitieren - lest ihn am besten selbst. Zum Schluss nur noch Raúls Bitte an seine LeserInnen: 

 

Ignoriert unsere Behinderungen nicht. Wir brauchen keinen Trost. Wir brauchen Empathie und eine barrierefreie Welt.

 

Dazu passen sehr gut meine Erfahrungen im Umgang mit Menschen ohne Behinderung. Es geht um die Einschätzung, dass Henri eigentlich ein ganz normales Kind ist - denn jedes Kind ist anders. Ich fühle mich mich immer noch (!) unter Druck, wenn ich von Eltern nicht behinderter Kinder, aber auch im weiteren Umfeld höre, dass alles, was mich im Umgang mit Henri immer wieder ratlos macht, auch bei Kindern ohne Behinderung vorkomme. Die vermeintliche Normalität von Henris Verhalten macht es mir in diesen pubertären Zeiten ganz besonders schwer. Wir haben jeden Tag Situationen, die in dieser Art bei einem nicht behinderten Kind nicht vorkommen und Kommentare wie Das ist doch bei anderen Kindern genauso, denn jedes Kind ist anders. mögen als Trost gemeint sein, sind meinem Empfinden nach eher ein Ausdruck von Unverständnis. Ich tausche mich manchmal aus mit Müttern, die auch ein Kind mit Down-Syndrom haben. Die Situationen, die mich und unsere Familie immer wieder an unsere Grenzen bringen, gibt es so ähnlich auch in anderen Familien mit pupertierenden Jugendlichen mit Down-Syndrom. Für mich ist es immer wieder tröstlich oder zumindest erleichternd, zu hören, dass auch diese Mütter um Lösungen für Schwierigkeiten ringen, die sie von ihren nicht behinderten Kindern nicht kennen.

 

Ein Beispiel: Schon seit Wochen sprechen wir darüber, dass es Ende Oktober eine inklusive Disco für Menschen mit und ohne Behinderung geben wird. Zum ersten Mal seit Tannheim soll Henri endlich wieder einmal Gelegenheit haben, so richtig abzutanzen und wir sagen sogar andere Termine ab, damit sie Henri nicht entgeht. Auch Henri freut sich und überlegt sich schon am Tag zuvor, wie er sich cool anziehen könnte. Eine gute Stunde vor der geplanten Abfahrt, Henri müsste nur noch duschen und sich anziehen - kippt plötzlich die Stimmung. Henri sitzt auf dem Sofa und ist plötzlich nicht mehr ansprechbar. Die Zeit wird immer knapper ... jetzt müsste er sich schon richtig beeilen, wenn wir pünktlich sein wollen, sagen wir ... Es gibt Momente, wo der Schalter plötzlich wieder umspringt und eine scheinbar verfahrene Situation sich zum Guten wendet. Manchmal genügt es, wenn ich alles andere ausblende und mich völlig auf Henri einlasse, ihm die richtige Frage stelle oder seine Stimmung mit dem genau richtigen Satz zusammenfasse. Mama lieb! sagt er dann, umarmt mich und wir sind wieder ein Team. An diesem Tag soll es nicht sein, alle Bemühungen bleiben erfolglos ... irgendwann geben wir auf und per WhatsApp sage ich der Bekannten, die uns eingeladen hat, mit schlechtem Gewissen ab. Sie hat keine Tipps für bessere Erziehungsmaßnahmen, sondern Verständnis und berichtet von einer ähnlichen Situation, die sie erst kürzlich mit ihrem Sohn hatte. Er hat übrigens auch Down-Syndrom...

 

Unsere Kinder sind "anders anders" und der Grund  liegt nicht darin, dass wir sie falsch erzogen haben ... wie mich vor zehn Jahren ein Therapeut glauben machen wollte. Ein Therapeut, der jede Verhaltensauffälligkeit von Kindern und Jugendlichen mit Down-Syndrom den Eltern bzw. mangelnder erzieherischer Kompetenz anlastet. Übrigens der gleiche, der meinte, wir würden unserem Sohn Chancen vorenthalten, wenn wir innerlich von vornherein ausschlössen, dass Henri mal Mathematik-Professor wird (#allesistmöglich).

 

Was wünsche ich Henri: Als erstes offene Menschen um ihn herum. Dass er mit oder trotz seiner Besonderheiten, Einschränkungen - seiner Behinderung -  teilhaben darf an einem Leben, das für die Menschen / Kinder aus einem Umfeld selbstverständlich ist. Ich bin sicher, er hat eine Vorstellung von ganz normaler Junge - und er fühlt und betrauert, dass er es nicht ist... und schon gar nicht behindert.  Es hilft ihm und uns nicht, wenn Menschen sagen, dass er doch eigentlich ein ganz normales Kind ist - dagegen ist es ein großes Geschenk, wenn er weitgehende Normalität im Miteinander erleben darf. Dazu braucht es keine sonderpädagogische Zusatzausbildung - eine offene und emphatische Haltung reicht völlig aus. Es gibt vieles, was besser sein könnte in Henris Alltag, aber es gibt auch Erfahrungen, die uns in Sachen Teilhabe Mut machen:

Ich hatte schon geschrieben, dass Henri seit einem halben Jahr zum Hip-Hop geht - mit viel Freude und ganz ohne Assistenz. Dass die anderen Kinder jünger sind, scheint ihn nicht zu stören und wir freuen uns mit ihm, wenn er sich freitags nach dem Klavierunterricht ohne Aufforderung seine kurze Sporthose anzieht (die er offenbar besonders cool, vielleicht auch sportlich findet ;-) und sich für die Abfahrt zum Hip-Hop bereithält.

Ähnlich ist es auch bei der örtlichen Jugendfeuerwehr, der er seit dem Sommer angehört. Die BetreuerInnen integrieren ihn, so wie er ist - mit seinen Eigenheiten scheinen sie einen guten Umgang gefunden zu haben. Zum Beispiel, als Henri beim Ausflug in den Freizeitpark plötzlich sein Capt'n-Sharky-Lineal vermisst hat und (was sehr selten vorkommt) sogar Tränchen geflossen sind, wie sie uns beim Abholen berichten. Sie hatten schon auf der Hinfahrt im Bus bemerkt, dass das mit Flüssigkeit gefüllte Lineal kein gewöhnliches Messinstrument, sondern für Henri das beste Entspannungsutensil überhaupt ist, und konnten so im ( für Henri) nahezu größten Notfall mit Verständnis reagieren. Dass Henri das Lineal auf der Rückfahrt wieder zur Verfügung hatte, lag daran, dass er es zusammen mit seinem Handy, in dem eine Visitenkarte mit Mamas Kontaktdaten steckt,  hatte liegen lassen. Als die Parkinfo des Parks anrief und mich fragte, ob ich die Mutter von Henri sei, ist mir erst einmal der Schreck in die Glieder gefahren. Sie konnte ja nicht wissen, dass Henri mit der Feuerwehr unterwegs ist und die Mutter nicht im Park, sondern bei der Gartenarbeit ist. Gerade noch rechtzeitig vor Abfahrt des Busses erreichte ich die Betreuerin, auf ihrem Handy.  - Glück für Henri, dass sie das Lineal samt Handy (das er nicht vermisst hatte) gleich abholen konnte.

 

 

30. September 2019 / Opposition Studios in Bonn

Cool sein, wird für Henri immer wichtiger. Auch vor den Dreharbeiten für Frag mich doch gibt er sich ziemlich cool... zumindest bis es richtig losgeht ;-). Die Atmosphäre und das Team ist wirklich entspannt - dennoch war es für uns alle auch aufregend und das freie Sprechen über sehr emotionale Themen fällt mir vor laufender Kamera schwerer als im Vorgespräch. Auf der Rückfahrt gibt sich Henri bei Kaffee und Kakau wesentlich lockerer  als während des Drehs. Und ich frage mich, was das wohl für ein Video wird und ob es mir gelungen ist, mich so auszudrücken, dass bei den  ZuschauerInnen ankommt, was mir ein Anliegen ist.  

 

4. Oktober 2019 

An unserem ersten Tag im Wallis wandern wir vom Saas Almagell  aus nach Plattjen hoch über Saas Fee. Es ist eine lange Wanderung, die viel Ausdauer erfordert. Henri darf diesen ersten Tag ganz entspannt mit Oma und Opa und kleinen Spaziergängen verbringen. 

 

5. Oktober 2019

Am zweitenTag geht es von Saas Almagell aus über den Kapellenweg nach Saas Fee. An der Kapelle zur Hohen Stiege treffen wir uns zur Mittagsrast.

 

5. Oktober 2019 / Kapelle zur Hohen Stiege in Saas Fee

Wie so oft sitzt Henri etwas abseits von der Gruppe. Die Stimmung steigt, als er die Idee bekommt, dass ich ihn und seine liebste Cousine Marielle fotografiere, damit er ein neues Foto für seinen Startbildschirm hat. Henri ist glücklich - auch wenn sein großer Wunsch, dass Marielle nur mit ihm und mit keinem sonst befreundet ist, auch durch das schönste Foto zu zweit natürlich nicht erfüllt werden kann. 

 

5. Oktober 2019

Als Amelie mitbekommt, dass ich das Licht gerade so schön finde, möchte sie auch Fotos ... und zwar nicht nur von ihr, sondern auch zusammen mit Elias und Marielle. Henris gerade noch gute Stimmung fällt mit einem Mal in den Keller, als er beobachtet, dass Amelie nun mit Marielle am gleichen Baum steht wie er zuvor. Erst einmal ist er regelrecht erzürnt, später traurig und fast untröstlich. 

 

5. Oktober 2019 - auf dem Heimweg nach Saas Almagell 

#Freunde - Henri wünscht sich eine Freundin nur für sich. Wie gut, dass er so liebe Geschwister hat, die ihn oft besser trösten können als die Mama. 

 

6. Oktober 2019 Kreuzboden / Saas Grund 

Für heute ist der Höhenweg geplant, eine traditionsreiche Wanderung am Berg entlang - das Wetter ist gut und alle freuen sich auf die schöne Tour. Als wir auf Kreuzboden aus der Gondel steigen, habe ich keine Zweifel, dass Henri den Weg mit der Gruppe anderen mitgehen wird und freue mich, wir noch einmal alle zusammen wandern :-). Ich flitze nur noch schnell die 200 Meter rüber zu meinem Lieblingssee, um vor dem Start ein paar Fotos zu machen. Derweil setzt sich Henri neben die Rutsche am Kinderspielplatz ... schweigt und steht nicht mehr auf. Auch nicht, als ich vom See aus zu ihm zurückkomme, dann vorgehe (die Gruppe ist bereits unterwegs), um ihn zu motivieren, aufzustehen und wieder zurück, um ihn abzuholen. Dirk und Elias stehen neben ihm und geben alles und auch Marie bietet Unterstützung an - sie und Kirsten kommen zurück, obwohl sie mit der Gruppe bereits eine Wegstrecke gegangen sind. Henri sitzt unbeweglich auf seinem Platz und schweigt - rien ne vas plus...

Am Ende fahren Dirk und Elias mit Henri mit der Gondel zurück ins Tal. Ich darf oben bleiben und gehe dann allein den Rückweg zu Fuß. Es tut mir gut und entschädigt mich ein wenig für den ausgefallenen Höhenweg.

 

7. Oktober 2019 - Mattmarksee  (2197 m)  

Der Rest der Gruppe hat für heute eine anspruchsvolle Tour geplant, die Henri nicht mitgehen könnte. Dirk, Elias, Henri und ich fahren wir mit dem schönen Schweizer Postauto zum Mattmark und machen uns dann auf den Weg zur Schwarzbergalp. Am Anfang der Wegstrecke gibt es zwei Tunnel - einen Fußgängertunnel mit Lichtschächten, direkt am steilen Hang zum See hinab. Daneben ist ein Tunnel für Baustellenfahrzeuge, ohne Lichtschächte und verboten für Fußgänger. Links oben seht ihr die Brüder am Anfang des Tunnels. 

 

7. Oktober 2019 - Schwarzbergalp

Richtig schön ist es hier oben - auch wenn die Wanderung heute kürzer ausgefallen ist, genieße ich es, hier zu sein. Es ist Dirks vorläufig letzter Tag und auch Elias wird heute Abend mit ihm nach Deutschland  zurückfahren. 

 

7. Oktober 2019

Auf dem Rückweg gibt es noch zwei Schreckminuten ... Wie immer geht Henri mit einem Abstand von etwa 15-20 Meter hinter uns her. Dirk und Elias gehen vorne und wie auf fast jeder Wanderung halte ich als eine Art Bindeglied die Verbindung zu Henri. Als ich mich im Tunnel umdrehe, wundere ich mich, dass Henri nicht hinter mir ist. Ich renne zurück zum Anfang des Tunnels und weil Henri nicht zu sehen ist, vermute ich, dass er sich einen Spaß machen wollte und den anderen Tunnel genommen hat. Ich rufe hinein ... immer lauter ... Henri antwortet nicht ... ich schreie... immer lauter... Keine Antwort. Direkt neben mir der Hang hinunter zum Stausee. Ich habe Angst, und wage nicht, hinunterzusehen. Da kommt Elias zurück, ruft mit lauter Stimme in den Tunnel hinein - aber auch er bekommt keine Antwort. Ich bitte ihn, den Hang hinab zu schauen  - er  tut es, auch wenn er sich sicher ist, dass Henri den anderen Tunnel genommen hat. Dann rennt er in den zweiten Tunnel, holt Henri ein, sieht, wie er mit schnellem Schritt auf den Ausgang zueilt. Aus dem Tunnel heraus gibt Elias die erhoffte Entwarnung. Vermutlich wollte Henri uns überholen, vielleicht wollte er auch einfach nur den anderen Tunnel von innen sehen. In dieser Situation erlebe ich das sonst einfach nur nervige Nichtantworten  ganz anders und stehe völlig neben mir - die Erleichterung kommt viel später als bei den anderen. Der große Bruder nimmt erst mich in den Arm und später den kleinen ins Gebet. 

 

 8. Oktober 2019 - Weissmieshütte 

Wieder fahren wir mir der Gondel auf Kreuzboden und wandern von da aus hinauf zur Weissmieshütte. Es ist der erste Tag, an dem ich mit den Henri und Amelie alleine bin, denn auch Marie und Kirsten sind am Morgen abgereist. Der relativ steile Aufstieg klappt prima - Henri ist motiviert und ich bin erst einmal erleichtert. Oben angekommen möchte Henri Fotos: Erst ein Foto mit Marielle und dann eines mit Marielle und Jakob. Ganz wichtig für ihn: Amelie auf keinem Foto sein dabei. Ich schlage vor, das wir erst ein Cousins-/Cousinenfoto mit allen Vieren machen und danach bekommt Henri seine gewünschten Fotos. Amelie ist außer sich, zieht sich hinter die Hütte zurück und es dauert eine Stunde, bis sie wieder gesprächsbereit ist. Auch dass Henri sich mit ausgestreckter Hand entschuldigt und sich dann in gebührendem Abstand neben sie setzt, kann sie nicht umstimmen. Und wieder mal gibt es kein gemeinsames Foto für Omas Kalender... 

 

8. Oktober 2019

Auch der Rückweg zum Kreuzboden ist für Henri kein Problem. Die anderen gehen vor und Henri und ich bilden das Schlusslicht der Gruppe. Auf Kreuzboden grillen und picknicken wir alle zusammen an der Feuerstelle. Henri findet schnell Anschluss an die andern Kinder, macht seine Scherze und Amelie ist voller Vorfreude auf die Trottifahrt. Alles wieder gut :-). Nach dem Picknick fahren die Kinder (außer Henri, der bis zu seiner nächsten Wirbelsäulenkontrolle im Sommer nicht fallen darf) mit den Monster-Trottis ins Tal, einige Erwachsene fahren mit der Gondel und nehmen Henri mit und ich darf den Weg hinunter ganz für mich genießen - ich mag diesen Weg über die Triftalp so sehr und bin dankbar, dass mir diese Auszeit gegönnt ist.

 

11. Oktober 2019 - Zermatt! 

Dirk ist zurück aus Offenburg und ich bin voller Vorfreude auf Zermatt! Henri bleibt heute bei Oma und Opa, Amelie geht mit der Gruppe einen anspruchsvollen Weg, den ich mir mit meiner Höhenangst nie und nimmer zutrauen würde und Dirk und ich gehen den traumhaft schönen 5-Seenweg. Soo  wunderschön - vom Glücksgefühl kommt es der Zeit in Island ziemlich nahe. 

 

11. Oktober 2019 - Zermatt

Ein Ausflug nach Zermatt ist nicht gerade ein Schnäppchen. Für den Zug und die Bergbahn auf Sunnegga werden pro Person 60 € fällig. Daher und auch weil er keine besondere Bindung zu Zermatt  hat, ist Dirk, was diesen Ort betrifft, immer sehr zurückhaltend. Weil er weiß, dass es für mich ein wahrer Sehnsuchtsort ist,  lässt er sich auch dieses Jahr wieder motivieren, mich zu begleiten :-).

 

12. Oktober 2019 - Furggalp / Saas Almagell 

Heute sind wir mit der Familie meines Bruders unterwegs. An unserem letzten Tag zieht es uns auf die Furggalp. Noch einmal genießen wir die Schönheit des Wallis in vollen Zügen. Ach, ich könnte noch bleiben!

 

12. Oktober 2019 - (keine) Freunde

Immer wieder überkommt Henri eine tiefe Traurigkeit ... manchmal kündigt es sich an, manchmal unvermittelt und für uns kaum nachvollziehbar: Dass er sich nicht richtig erklären kann, macht es noch schlimmer. Alles, was er in solchen Situationen sagt, ist Freunde! An diesem Tag fällt es ihm wohl besonders schwer, die Nähe und Freundschaft zwischen Amelie und Marielle zu erleben. Er setzt sich abseits, den Kopf in den Händen. Ich bin froh, das Amelie sich ihn zuwendet - auch der Versuch zu trösten, kann helfen.

 

12. Oktober 2019

Zum letzten Mal auf dem Weg ins Tal. Für die anderen bildet der Erlebnisweg den krönenden Abschluss des Urlaubs. Ein alpiner Weg mit zwei Hängebrücken und einigen gut gesicherten Felspassagen, der traumhafte Aussichten auf die Saaser 4000-er Bergwelt bietet, Schwindelfreiheit voraussetzt und laut outdooractive gut geeignet ist, die eigene Höhenangst zu testen. Dies habe ich bereits vor zwei Jahren erledigt und so ist Henri nicht der alleinige Grund, dass Dirk und ich mit ihm und den Hunden den Waldweg hinunter nach Saas Almagell gehen.

 

13. Oktober 2019

Die Heimfahrt fährt uns am Genfer See vorbei - schon wieder ein Ort, an den ich bald zurückkommen möchte. Henri ist guter Dinge, freut sich auf zu Hause und ist in Schmuse- und Fotografierstimmung. 

 

14. und 22. Oktober 2019 - Alltag im Wiesental 

 

 

23. Oktober 2019 im Fitnessstudio

Mittlerweile hat Henri seine eigene Mitgliedskarte und macht die Übungen weitgehend selbständig. In der Regel beginnt er mit 45 Minuten Ausdauertraining auf dem Laufband oder Fahrrad - ohne Kopfhörer wäre er wohl weniger motiviert. Es folgt Krafttraining an den Geräten, bei dem Henri immer wieder seine Arm- und Beinmuskeln begutachtet ;-). Zum Schluss lässt er es auf dem Laufband auslaufen. 

 

 

26. Oktober 2019 - Henri, wie er sich selbst gerne sieht

Eine Familie im Baugebiet hat zum Lichterfest eingeladen - und Henri macht sich cool :-).

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Kommentare: 4
  • #1

    Die Förderschullehrerin... :-) (Sonntag, 10 November 2019 15:22)

    DANKE für deinen Beitrag zum Wort "behindert".... Es ist ein WORT. Und ganz egal welches Wort man verwendet (Klar gibt es unverwendbare Ausnahmen.), man beschreibt das selbe. Respektlos wird das Wort "behindert" dann, wenn es entsprechend respektlos verwendet wird - wie jedes andere Wort dafür auch. Ich kenne behinderte Menschen, die darauf bestehen, "behindert" zu sein. Alles andere sei Augenwischerei. Dennoch fällt es selbst mir manchmal schwer das Wort zu verwenden, weil ich weiß, dass viele denken "Wie kann sie nur...?" Und weil mir das Wort im Studium verboten wurde.
    Doris, du weißt, ich könnte darüber endlos referieren... ;-)

  • #2

    Henri-mittendrin @ die Förderschullehrerin (Sonntag, 10 November 2019 19:05)

    Danke für deine offenen Worte Frau Förderschullehrerin. Dann gibt es wohl doch einen internen Sprachcodex , an den sich Menschen ohne Beeinträchtigung zu halten haben - insbesondere, wenn sie mit Menschen mit Beeinträchtigung arbeiten. �

  • #3

    Sarah (Freitag, 24 Januar 2020 05:36)

    Ich kann nicht beurteilen, wie man sich mit dem Begriff „Behinderung“, „Beeinträchtigung“ o.ä. fühlt, weil ich davon selbst nicht betroffen bin.

    Ich teile aber Deine Einschätzung und habe mich mit dieser Frage auch schon beschäftigt, und zwar unter dem Gesichtspunkt gendergerechter Sprache. Da habe ich, obwohl ich selbst eine Frau bin, auch noch nie verstanden, wieso es wichtig sein soll, überall ein „*innen“ anzuhängen. Ich fühle mich von einer E-Mail mit der Anrede „liebe Kollegen“ genauso angesprochen wie von einem Gesetzes- oder Vertragstext „Der Käufer ist verpflichtet...“. Das hat für mich auch nichts mit Diskriminierung zu tun.

    Vielmehr wird, so jedenfalls meine Wahrnehmung „politisch korrekte“ Sprache oft als rein kosmetisches Vehikel und billiges Mittel genutzt, um Aktionismus vorzuschützen („schaut her, wir sind so offen und divers, dass wir natürlich Frauen extra mit ansprechen!“), während damit gleichzeitig echte Diskriminierung verschleiert wird.

    Ich habe dazu die ganz klare Meinung, solange mein Arbeitgeber mir als Frau das gleiche Gehalt zahlt wie Männern, ist mir völlig egal, ob in jeder E-Mail von „Mitarbeiter*innen“ die Rede ist.

    Und ich glaube, beim Thema Behinderungen ist das ähnlich. Sprachkosmetik ist natürlich billiger, als Inklusion (in allen möglichen Lebensbereichen) zu finanzieren. Nur hat ein Rollstuhlfahrer von einer Rampe ins Bürgeramt im Zweifel mehr als von Formularen, in denen von „Menschen mit Beeinträchtigung“ die Rede ist.

    Ja, Sprache hat viel Macht. Ich bin Anwältin, formuliere und verhandle Verträge und weiß genau, wieviel Einfluss die richtige Formulierung darauf haben kann, die Interessen des eigenen Mandanten in Vertragsverhandlungen durchzusetzen oder die Gegenseite zu Kompromissen zu bewegen. Selbst wenn man inhaltlich nicht von seiner Position abweicht, reicht dafür manchmal schon eine geschickte Formulierung, ein Verpacken in anderen Worten aus.

    Insofern kann ich die Argumentation schon verstehen, dass auch eine bestimmte Begriffswahl als diskriminierend empfunden werden (und auch tatsächlich diskriminierend wirken) kann. Nur - das passiert über kurz oder lang, egal welchen Begriff man dafür wählt. Früher hätte man z.B. vielleicht bei einem Begriff wie „Spasti“ gesagt „das sagt man nicht, das heißt Behinderter“. Daraus wurde dann „Behinderter sagt man nicht, das heißt Mensch mit Behinderung“. Daraus wurde dann „das sagt man nicht, das heißt Mensch mit Beeinträchtigung“ usw. - die Begrifflichkeit ändert aber in der Regel nichts an der Intention, mit der sie benutzt wird. Deshalb wird es auch nie einen endgültig richtigen Begriff geben. Und deshalb werden solche Begriffe allein auch nie helfen, auf tatsächlicher Ebene etwas zu verändern. Sie lenken vielmehr von echten Mißständen und Benachteiligungen ab, weil sie es Menschen, Behörden, Arbeitgebern ermöglichen, sich auf politisch korrekten Formulierungen auszuruhen, statt strukturelle Benachteiligung inhaltlich anzugehen.

  • #4

    Barbara (Montag, 02 März 2020 19:35)

    Ich bin über einen Facebooklink auf diesen und den folgenden Blog gestoßen und konnte nicht aufhören zu lesen.ich bin und hergerissen zwischen toll (Leben) und schrecklich (Schule).
    Ich bin traurig und wütend, wenn ich lese, wie den anvertrauten Menschen das, was ihnen helfen würde, mit Schönfärberei vorenthalten wird.
    Bitte schreib weiter.
    Mehr Worte fallen mir gerade nicht ein, so voll bin ich.