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Die Drainage ist raus

Es geht weiterhin in die richtige  Richtung. Heute Morgen ist Henri nach dem Frühstück erstmals mehr als zwei Schritte gegangen. Anfangs war er schwer zu motivieren – das Böcklein zeigte sich ungehemmt. Der Plan war, dass er er sich ein bisschen auf der Station hin- und herbewegt und die Physiotherapeutin wollte ihn in guter Absicht mit dem Vorschlag locken, sie werde ihm den Kindergarten zeigen. Darüber hat er sich noch mehr empört und Bin kein Baby! gerufen. Als er dann erst einmal auf den Beinen war, ging es mit Unterstützung rechts und links recht gut vorwärts – noch ein bisschen unsicher, aber immer zuversichtlicher ist er gegangen. Manchmal war sogar ein leichtes Lächeln drin ;-). 

Am Nachmittag wurde dann einer seiner größten Wünsche erfüllt: Die Drainage durfte endlich raus – für die Ärzte Routine, für mich aufgrund einer offensichtlich immer noch nicht verarbeiteten Erfahrung in Sankt Augustin nicht…eigentlich waren es zwei. Dort hatten die Ärzte beim Legen der Pleuradrainage zunächst eine Sedierung gewählt, die „auf die Atmung gehen“ kann. Wir standen dabei, als Henris Atem immer flacher wurde und er deshalb gebeutelt (mit einer Art Handpumpe Luft in Mund und Nase bringen) werden musste. Danach entschieden sich die Ärzte sozusagen in zweiter Wahl für eine die Atmung nicht beeinträchtigende Methode… die mir aber ebenfalls in keiner guten Erinnerung ist.

Dabei wird das Beruhigungsmittel Midazolam kombiniert mit Ketanest, das gegen Schmerzen wirkt. Ketanest versetzt in andere Sphären, es wirkt wie eine Droge (wird auch als solche verwendet) und verursacht Rauschzustände und eventuell auch Halluzinationen.

Ich erzählte dem Stationsarzt von unseren Erfahrungen in Sankt Augustin und er sagte, dass er in Henris Fall auf jeden Fall die zweite Methode (mit Ketanest) bevorzuge. Weil mir Henris starrer Blick und die scheinbare Leblosigkeit in Erinnerung geblieben war, bin ich zum ersten Mal freiwillig aus dem Zimmer gegangen.

An dieser Stelle möchte ich positiv erwähnen, dass wir hier in Lübeck noch bei keiner Behandlung aus dem Zimmer geschickt wurden. Ich finde es (einmal wieder :-) vorbildlich, dass Ärzte und Pflegepersonal ihre Arbeit so tun, dass unnötige (!)Ängste gar nicht erst entstehen. Dagegen zieht mir ein knappes Bitte gehen Sie jetzt mal raus, wir rufen Sie, wenn wir fertig sind. regelmäßig den Boden unter den Füßen weg. Als Mutter habe ich keine Ahnung, warum ich ein Zimmer plötzlich verlassen soll und bei entsprechender Neigung vor der Tür genügend Zeit für worst-case-Szenarien. Alles anders hier in Lübeck… hier habe ich gesagt, dass ich gerne rausgehen möchte, weil ich Henris Reaktion auf Ketanest in unguter Erinnerung habe. Weil Dirk dabei war, konnte ich das auch ohne schlechtes Gewissen Henri gegenüber tun.

Als ich 10 Minuten später zurück ins Zimmer kam, war Henri erst einmal noch sehr schläfrig, fing dann aber bald an, mit tiefer Stimme unendlich viel zu reden und zu erklären. Soweit so gut und auch ein bisschen witzig, wie er da dozierte… Dann kam jedoch die Angst dazu. Henris Beine zitterten, er sagte, es sei kalt auf der Straße und man brauche einen Mantel. Er redete von angstbesetzten Situationen, die längst vorbei waren, beschwerte sich über den Blasenkatheter, der bereits seit gestern raus ist und über entfernte Zugänge. Ich legte mich neben ihn ins Bett und versuchte ihn – wenn die Angst kam - abzulenken, was auch immer wieder gut funktionierte. Die Ängste kamen aber zurück und das Grauen in Henris Augen werde ich wohl nie wieder vergessen.Dennoch war ich froh, dass ich bei ihm sein konnte – es muss ein Horror sein, solche Ängste ohne enge Bezugsperson aushalten zu müssen. Dank der professionellen Begleitung des Stationsteams hatte ich in diesen Minuten keine Angst um Henri, aber es tat weh, ihn so leiden zu sehen. Die Schwester im Hintergrund sagte ganz ruhig und unaufgeregt, dass es sich um normale Reaktionen handele, an die sich das Kind aufgrund des Beruhigungsmittels später aber nicht mehr erinnere. Der Spuk war nach etwa einer halben Stunde vorbei – eine Erlösung.

Nachdem ich mir das alles von der Seele geschrieben habe, kann ich es loslassen.

 

Und falls jemand aus Lübeck dies lesen sollte: Danke, ihr seid so ein tolles Team!

 

19. Januar 2019

Für Schlafen hatte Henri heute nur am Morgen Zeit .

 

19. Januar 2019

Zum ersten Mal richtig auf den Beinen - und die Sonne scheint ihm ins Gesicht ☀️.

Kommentare: 4
  • #4

    henri-mittendrin @ Oli (Donnerstag, 08 Oktober 2020 13:30)

    Danke Oli, wir sind wirklich sehr glücklich, dass die Operation erfolgreich war und er heute mit geradem Rücken und schmerzfrei leben kann. Auch Ihnen weiterhin alles Gute und dass es Ihnen auch gesundheitlich weiterhin so gut geht!

  • #3

    Oli (Mittwoch, 07 Oktober 2020 18:52)

    Ich hatte auch eine Wirbelsäulenversteifung Operation 2012 es war einer der härtesten Tage meines Lebens. Aber ein riesen Gewinn für mein späteres Leben.
    .
    Ihr Sohn kann stolz auf sich sein so eine riesen Operation durchführen zu lassen und es so super hinbekommt. Weil ich ja gelesen habe dass er auch Down-Syndrom hat und trotzdem so gut damit klar kommt. Verliere nie dein Lächeln ich mag Menschen mit Down-Syndrom weil sie einen mitreißen mag sein dass sie auch schlechte Tage haben aber meist sind es ja gute Tage. Viel Glück euch noch.

  • #2

    henri-mittendrin (Montag, 21 Januar 2019 23:09)

    Liebe Kirsten, deine Pakete sind so wirksam, dass ich nicht mehr darauf verzichten mag ;-). Danke!

  • #1

    Kirsten (Sonntag, 20 Januar 2019 02:26)

    ..na bitte, weg sind sie, die ekligen Drainagen. Es scheint so als sei mein extra Paket angekommen ;-) Morgen schicke ich ein 2 mal XL- Paket, damit Henri bald auf Station darf!

    ganz liebe Grüße!