Auch am am nächsten Tag steht wieder eine Wanderung an - für Henri mit Oma und Opa soll sie durch Benutzung des Buses deutlich verkürzt werden. Treffpunkt ist immer um 10.00 Uhr - ganz gleich, welcher Gruppe man sich später anschließt. Auch die Busfahrer treffen sich um 10.00 Uhr.
Heute will Henri sich nicht anziehen. Will nicht wandern. Scheinbare Bewegungslosigkeit und immer nur Will nich wandern – derweil tickt die Uhr, der Druck steigt. Mutter hilflos, Vater wütend. In letzter Sekunde springt Henri in die Kleider. Die Aussicht für die nächsten Tage ist beklemmend: Was tun, wenn Dirk übermorgen wieder abreist? Wie bekomme ich ihn morgens zum Treffpunkt, wenn er was ganz anderes will? Wie verhalte ich mich, wenn Henri sich bei einer Wanderung auf den Boden setzt und 20 Leute darauf warten, dass es endlich weitergeht? Wohin mit den guten Ratschlägen... Auf der einen Seite mein Willnich – auf der anderen Seite die Gruppe. Wir kommen pünktlich zum Treffpunkt und alle sind betroffen, als ich sage, dass ich - so wie es jetzt aussieht - übermorgen mit Henri zusammen mit Dirk abreise. Natürlich bieten einige ihre Hilfe und Unterstützung an - meine Eltern, mein Bruder und Familie, aber auch andere, die sich Henri in den ersten Tagen sehr fürsorglich und liebevoll angenommen haben. Auch heute gibt es immer wieder kritische Momente und die Situation bleibt sehr anstrengend - Henri ist unzufrieden und blockiert. Dennoch bekommt ihn der coole Förderlehrer zwischenzeitlich auch zum Lachen, als er auf dem Saas-Feer Grillplatz mit ihm zusammen eine Aufführung vor großem Publikum machen darf.
Auf dem Heimweg gebe ich mir Zeit, meine Beweggründe und die Entscheidung, den Urlaub in der Halbzeit abzubrechen, nochmals für mich zu überdenken. Dabei wird mir ziemlich schnell klar, wie mein Gefühl der Überforderung entstehen konnte: Ich tat alles, um es beiden Seiten recht zu machen ... jedoch leider ohne Erfolg. Wie gerne würde ich Henri in seinen Bedürfnissen annehmen und mich gleichzeitig den anderen so anpassen, dass ich sie nicht behindere! Erst in der Stille spüre ich, dass dies nicht zu schaffen ist - auch nicht mit größtem Einsatz. In diesem Moment lasse ich los und Plan B entsteht: Ich werde bleiben und dabei sollen Henris Bedürfnisses im Vordergrund stehen. Es ist niemandem gedient, wenn ich permanent Druck auf Henri ausüben muss, um auf Biegen und Brechen ein Mitlaufen zu erzwingen. Als mir das klar wird, entspannt sich die Situation im Kleinen und später auch im Großen...
In der zweiten Hälfte unseres Wanderurlaubs darf Henri mit mir und/oder den Großeltern ein eigenes und Henri-freundiches Programm haben. Das fängt schon mit dem Treffpunkt an: Wir stehen zwar zur üblichen Zeit auf, lassen uns aber nach dem Frühstück Zeit. Henri darf noch malen und Michel lesen und ich bearbeite in der Zeit Bilder. Wir verlassen das Haus zwar später, aber in Ruhe ohne Anspannung. Kein Henri, wir müssen :-).
In diesem Zusammenhang muss ich etwas loswerden, was ich immer wieder beschäftigt - es ist vermutlich ein Gefühl gegen den Trend. Kinder mit Down-Syndrom erleben schon seit längerem in der Öffentlichkeit eine enorme Aufwertung . Als ich mit Henri schwanger war, waren die Vorbehalte in der Gesellschaft viel größer als heute. Heute lachen sie einen von Plakatwänden an, sind Models für Modelabels, treten im Fernsehen auf ... vielfach ist zu lesen, dass diese Kinder gar nicht behindert sind, sondern nur behindert werden. Dazu passt auch, dass die Medien gerne Berichte von den wenigen (es sind tatsächlich sehr wenige!) Menschen mit Down-Syndrom verbreiten, die Abitur und ein abgeschlossenes Hochschulstudium haben. Alles ist möglich heißt es da. Ich sage ehrlich, dass ich mein Kind und mich in diesem öffentlich propagierten Bild nicht wiederfinde. Ich bin offen und dankbar für alle Entwicklungsschritte und tue alles, um Henri ein möglichst eigenständiges Leben zu ermöglichen. Andererseits glaube ich nicht, dass ich seine Entwicklung ausbremse, wenn ich ausschließe, dass Henri einmal als Professor für Mathematik an der Uni unterrichten wird. Diesen Vorwurf musste ich mir kurz vor Henris Einschulung von einem besonders ambitionierten Montessori-Therapeuten machen lassen: Woher wollen Sie wissen, dass er nicht einmal Mathematik-Professor wird? Ich bin sicher, heute würde er sagen, dass es ja kein Wunder ist, wenn Henri nicht über den Zahlenraum von 20 hinauskommt - die Eltern hemmen seine Entwicklung schon von Anfang am mit falschen/zu geringen Erwartungen. Die Aufwertung, die Menschen mit Down-Syndrom in den letzten Jahren erfahren haben, erfolgt aber nicht nur über die höhere Einschätzung ihrer geistig-intellektuellen Fähigkeiten. Jeder ist verschieden klingt erst einmal schlüssig - wer will schon sein Kind in eine Schublade stecken (lassen)? Dennoch bin ich der Meinung, dass Henris Verschiedenheit eben doch eine andere als die seiner drei Geschwister ist. Diese Erkenntnis ist für mich in keiner Weise eine Abwertung meines behinderten Kindes. Ich habe im Gegenteil den Eindruck, dass ich Henri nicht gerecht werde, wenn ich diese besondere Verschiedenheit (ich weiß schon um die dieses Paradoxon) nicht anerkenne. Was wir in der Schweiz mit Henri erlebt haben, liegt eben nicht daran, dass Henri schlechter erzogen ist als seine Geschwister, wie es uns der o.g. Therapeut vor Jahren glauben machen wollte. Henri ist anders und braucht (übrigens nicht nur in Konfliktsituationen) einen entsprechend angepassten Umgang. Unsere anderen Kinder sind nicht immer gerne, sondern oft auch unter Protest gewandert. Keines hat sich jedoch mit reglosem Blick auf den Boden gesetzt oder gar gelegt. Was ich sagen will: Dieses neue öffentliche Bild von Kindern und Erwachsenen mit Down-Syndrom tut diesen Menschen und Familien nicht unbedingt einen Gefallen - es kann auch Druck erzeugen, der nach immer mehr Anpassung in Richtung einer vermeintlichen Normalität strebt. Da ist mir die gute alte kind- (klienten-)zentrierte Pädagogik nach Rogers wesentlich sympathischer.
Und nun noch ein paar Fotos, nachdem Plan B wirksam geworden war :-).
11. Oktober 2017 - Kreuzboden über Saas-Grund
Der Druck ist weg: Was für eine Wohltat ... für uns beide!
11. Oktober 2017 - Kreuzboden über Saas-Grund
Es macht so viel Freude, alleine mit Henri unterwegs zu sein. Ich bin erstaunt, mit wie viel Mut und wie sicher er über die Hängebrücke geht. Als wir am Nachmittag mit der Gondel runterfahren , ist die Stimmung gut wie lange nicht. Kein einziges Willnich höre ich an diesem Tag .
9.Oktober 2017 - Saas-Fee -Mällig und Gebidum
Henri ist mit Oma und Opa unterwegs und wir erleben auf einer langen Wanderung eine grandiose Natur!
13. Oktober 2017 - Zermatt
Unseren letzten Urlaubstag verbringen wir mit Oma und Opa auf Sunegga über Zermatt. Henri darf Fahnenstehen und ist zufrieden :-)
14. Oktober 2017 - noch einmal Kreuzboden
Während die anderen schon auf der Heimfahrt sind, genießen wir ein kleines Add-On auf Kreuzboden. Wir sind zu viert und als wir zum See gehen wollen, braucht Henri einen Rückzug. Er setzt sich (in Sichtweite) neben den Kinderspielplatz und betrachtet das Spiel seiner Fahne... durchaus ausdauernd ;-) Geduldig warten wir bis er zu uns herüberkommt - mit der vertrauten versöhnlichen Geste ❤️.
Wie gut, dass Plan B umgesetzt werden konnte!
Ein herzliches Danke an alle lieben Menschen, die beigetragen haben, dass wir eine gute und (letztendlich doch ;-) erholsame Zeit miteinander hatten! Danke, dass Henri mittendrin sein durfte!
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Bettina (Samstag, 28 Oktober 2017 20:35)
Liebe Doris,
der heutige Blog gefällt mir besonders gut - und du weißt warum ;) Wunderbar realistisch.
Henri ist behindert - und das ist keine Schande, sondern einfach eine Tatsache ohne Wertung :)
Liebe Grüße :)
henri-mittendrin (Samstag, 28 Oktober 2017 21:02)
Liebe Bettina,
während des Schreibens hatte ich die ganze Zeit das Gefühl - zumindest eine wird mich bestimmt verstehen ... Volltreffer :-) Danke für deinen Kommentar und liebe Grüße!
Steffi (Sonntag, 29 Oktober 2017 19:37)
Deine Entscheidung war richtig. Es macht keinen Sinn sich unter Druck zu setzen nur um allen gerecht werden zu können. So hattest du und auch Henri viel mehr davon. Und vor allen Dingen die erwünschte Erholung :)
henri-mittendrin (Sonntag, 29 Oktober 2017 20:50)
Du hast vollkommen recht, Steffi. Ich habe nur etwas Abstand gebraucht, um das zu realisieren. Das Umdenken hat sich wirklich gelohnt und danach ging es allen deutlich besser :-).
cordula@machdas.de (Freitag, 03 November 2017 10:29)
Liebe Doris,
du sprichst mir aus der Seele! Ich habe selber einen kleinen Jungen mit Down-Syndrom (5J.) und versuche ständig für mich zu definieren, was diese BehindertWerden / BehinderSein bedeutet.Auch freue ich mich sehr über das positive Bild des DownSyndroms in der Öffentlichkeit, sehe aber trotzdem ganz klar auch die "Andersartigkeit" meines Kleinen.Er hat vier große Geschwister, und ich weiß und spüre ganz genau, daß er noch mal anders tickt...Die Erfahrung mit dem übermotivierten Mintessoritherapeuten kann ich teilen, und ich finde schade, daß aus der neuen Wertschätzung der DownSyndromMenschen so schnell ein Anpassungs-und Leistungsdruck wird.Und wenns nicht klappt, dann haben natürlich die Eltern versagt...Auf diesem Grat muß man sich sehr trittsicher bewegen um den Besonderheiten des anvertrauten Menschen wirklich gerecht werden zu können.Vielen Dank für Deinen tollen Post! Herzliche Grüsse
Cordula
henri-mittendrin (Montag, 06 November 2017 23:03)
Danke für deinen Eintrag und deinen Zuspruch. Mir geht es wie dir: mit deinem Kommentar sprichst du mir aus der Seele und ich bin erleichtert, dass es auch andere gibt, denen es ähnlich wie mir geht. Wenn du auch eine Website/ einen Blog hast, lass die Adresse doch gerne hier. Ansonsten sende ich dir auf diesem Wege herzliche Grüße und wünsche euch alles Liebe!