Dieses Mal war die Pause richtig lang - seit September habe ich nicht geschrieben. Lange haben Zeit und Energie gefehlt, immer gab es etwas, was mir dringender/wichtiger vorkam. Und auch wenn mir sehr bewusst ist, dass die Zeit gerecht wie sonst nichts auf dieser Welt verteilt ist, kommt es mir trotzdem immer so vor, zu wenig davon zu haben. Die Tage sind gefüllt mit Verpflichtungen und Terminen, wie sie alle Familien kennen: Kinder in die Schule und zu all möglichen Aktivitäten bringen, abholen, wieder bringen und wieder abholen, Hausaufgaben und natürlich auch die üblichen, scheinbar nie enden wollenden Haushaltstätigkeiten, bei denen man froh sein muss, damit irgendwie den Status Quo im Haus und ums Haus halten zu können. Erst beim zweiten Lesen fällt mir auf, dass ich meine Berufstätigkeit unerwähnt gelassen habe - wohl, weil sie oft deutliche Züge von Entspannung hat... ich geb's zu ... Glück gehabt :-) Die meiste Zeit - und vor allem auch Energie - fließt in Henri ... in seine Unterstützung und Förderung mit dem Wunsch, zumindest ein bisschen mehr als den Status Quo erreichen zu können. Wer Henri nicht näher kennengelernt hat, hält mich vielleicht für eine übermotivierte Mutter, die (zu) viel von ihrem Kind erwartet. Könnte vermuten, dass da ein Kind richtig gepusht wird und der Hauptschulabschluss womöglich das Mindeste ist, was er erreichen soll. Dem ist nicht so. Henri hat - vermutlich aufgrund seines komplexen Herzfehlers und damit verbundener langer OP-Zeiten mit außergewöhnlich vielen Stunden an der Herz-Lungenmaschine schlechtere Ausgangsvoraussetzungen als die meisten anderen Kinder mit Down-Syndrom. Im Laufe der Jahre (Henri wird im August 15!) konnte ich auch die Entwicklung anderer Kinder verfolgen: Ob es nun um die Nahrungsaufnahme, das freie Gehen oder die Entwicklung der Sprache und der kognitiven Fähigkeiten geht, würde Henri bei einem Vergleich in keinem Bereich vorne, nicht einmal im Mittelfeld liegen.
Unser Wunsch war immer, dass Henri ein möglichst hohes Maß an Selbständigkeit erlangen kann - Grundkenntnisse im Lesen und Schreiben wären dabei ein wichtiger Punkt, dachten wir uns. Wir hatten zwar kaum damit gerechnet - aber Schritt für Schritt hat sich Henri tatsächlich ein paar Fähigkeiten angeeignet, die wir in den ersten Jahren kaum für möglich gehalten hätten. Ich erinnere mich sehr gut an die erste Klasse: Stundenlang haben wir Buchstaben "gemalt" und ich hatte wirklich Zweifel, ob dieses Kind jemals in der Lage sein könnte, ganze Wörter oder gar Sätze zu schreiben. Aber ich wollte ihm die Chance geben, wollte es nicht unversucht lassen... und bin heute überglücklich zu sehen, dass er mittlerweile kleine Briefe (voller Fehler, aber verständlich) schreibt und mit großer Begeisterung in großer Familienrunde detaillierte "Eisbestellungen" aufnimmt ;-) In diesen Momenten bin ich sicher, dass all meine Mühen richtig und wichtig waren. Wie viel Selbstbewusstsein gibt es einem Kind, sich in der Welt des Schriftlichen einigermaßen orientieren zu können: Autobahnausfahrten, Namen von Geschäften und Angebote, den eigenen Stundenplan lesen zu können... das ist ein Stück Normalität, die für die meisten Menschen einfach selbstverständlich ist.
Vielleicht fragt man sich, ob Henri denn in der Schule nicht schon genug tun muss, ob es keine Überforderung ist, wenn er während der Woche nahezu jeden Tag zu Hause üben muss. Seit 1,5 Jahren besucht Henri als erstes und bisher einiges Kind mit geistiger Behinderung eine "normale" Waldorfschule - wo Marie vor fast zwei Jahren Abitur gemacht hat und Elias in wenigen Monaten ebenfalls Abitur schreiben wird. Wir sind der Schule schon seit 15 Jahren verbunden, was die Aufnahme sicher begünstigt hat. Henri wurde in der Klasse seiner kleinen Schwester aufgenommen, mittlerweile besuchen beide die sechste Klasse. Dies wurde möglich, weil Henri ein Jahr später eingeschult wurde und außerdem die vierte Klasse an der Montessorischule wiederholen durfte.
Henri geht es gut an dieser Schule und auch in der Klasse - der anfängliche Trennungsschmerz ist verflogen. In seiner Besonderheit "gehört er dazu" und fühlt sich wohl - das ist das Wichtigste (!). Fast immer nimmt er am regulären Unterricht teil: Henri hört gerne zu, wenn etwas erzählt wird und mag es, von der Tafel abzuschreiben (was ich als sehr gute feinmotorische Übung werte). Wenn ich den Schilderungen seiner Integrationshelferin Glauben schenken darf (und das tue ich, liebe Angela :-), ist er ein unauffälliges Kind, das seinen Platz gefunden hat. Zwei- oder dreimal in der Woche hat Henri eine Stunde "Förderunterricht" - er liebt diese Stunden, die er allein mit seinem Förderlehrer verbringt, über alles. Dort darf er malen, basteln und handwerklich tätig sein. Seit ein paar Wochen baut er aus Lehmstückchen ein kleines Haus. Nach dem Verständnis der Waldorfpädagogik geht es bei diesen Tätigkeiten um die Förderung der "Basal-/Leibessinne". Henri ist so voller Begeisterung, dass er seine Kamera mit in die Schule genommen hat, um mir sein Haus schon vor der Fertigstellung zeigen zu können. Ich gönne ihm diese Förderstunden und weiß, wie gut sie ihm tun... auch wenn ich mir oft etwas Entlastung wünschen würde. Mehr denn je sehe ich mich - was die Vermittlung der Kulturtechniken betrifft - in der Pflicht. Manchmal höre ich, dass das "eigentlich nicht deine Aufgabe ist, du bist die Mutter". Schon klar - genauso klar wie die Tatsache, dass Henri ohne diesen Einsatz weder lesen noch schreiben könnte und auch seine Sprache (mache ich gleich mit ;-) weniger entwickelt wäre. Es ist mein und unser Weg - bestimmt nicht übertragbar und ganz sicher auch nicht als Modell geeignet, für uns und Henri jedoch alternativlos.
Kommentar schreiben