Gestern haben wir Post bekommen ... es war eine der schönsten Nachrichten der vergangenen Jahre ... etwas, was noch vor 5 Jahren undenkbar gewesen wäre: Henri wird ab dem kommenden Schuljahr "unsere" Waldorfschule besuchen.
Als im Frühjahr 2010 die Einschulung anstand, mussten wir zum ersten Mal die Erfahrung machen, dass Henri Türen verschlossen bleiben, die seinen Geschwistern bereitwillig geöffnet werden. Es war eine bittere Erfahrung, dass selbst eine heilpädagogische Schule sich nach monatelangen "Bewerbungsgesprächen" letztendlich nicht in der Lage sah, Henri in einer Kleinstklasse mit weniger als zehn Schülern einen Platz einzuräumen. Die Worte des Vorsitzenden des Aufnahmegremiums waren damals: "Wenn nach zwei oder drei Jahren das Intellektuelle beginnt, ist sowieso Schluss..." Erklärend muss angemerkt werden, dass Henri aufgrund des Down-Syndroms der Gruppe der "geistig Behinderten" zuzuordnen ist - die heilpädagogische Schule sich jedoch vornehmlich für die Beschulung "lernbehinderte Kinder" zuständig sah. Per Unterschrift sollten wir bestätigen, dass wir uns schon vorab mit einem Schulwechsel am Tag X ("wenn das Intellektuelle beginnt") einverstanden erklären. Henri hätte an dieser Schule, die uns bis dahin als der beste Ort für seine seelisch-geistige Entwicklung erschienen war, nicht einmal die Grundschulzeit verbringen dürfen. Die Entscheidung fiel zu einem Zeitpunkt, als an vielen Grundschulen die Anmeldefrist bereits überschritten war.
Es hat sich gefügt, dass Henri an einer "ganz normalen", aber sehr offenen Grundschule mit viel Offenheit für inklusive Konzepte aufgenommen wurde. "Ganz normal" sage ich, weil wir oft gefragt werden, ob Henri auf eine "Behindertenschule" geht. "Normale Schule" verstehen alle. Natürlich können sich die meisten Eltern (nicht behinderter Kinder) nicht vorstellen, wie das möglich sein soll, aber das ist ein anderes Thema. Unsere erste Begegnung mit "Staatsschule" war überraschend gut. Wir hatten - wie die meisten Lehrer dort - keine Erfahrung mit Integration und waren begeistert, wie schnell Henri seinen Platz gefunden hat. Dies lag nicht nur an der Schulleitung und den LehrerInnen, sondern auch an der herz - lichen Unterstützung durch seine Integrationshelferinnen.
Zwei Jahre später taten sich neue Wege auf: Zum neuen Schuljahr stand die Eröffnung der ersten Montessori-Grundschule in unserer Region an - unter Leitung einer Lehrerin, die Henri bis dahin an der Grundschule in Kunst unterrichtet und schon von Beginn an eine besondere Beziehung zu ihm hatte. Der Abschied von der Grund- und der Wechsel zur Montessorischule fiel uns allen nicht leicht, aber wir waren zuversichtlich, dass er auch an der neuen Schule gut aufgehoben sein würde. Dafür sprach nicht nur, dass seine Lehrerin und auch eine der Integrationshelferinnen mit ihm wechseln würde. Das Montessorikonzept schien uns wie geschaffen für eine inklusive Beschulung: Jedes Kind lernt nach seinem Tempo - es gibt keine "Klassen", sondern klassenübergreifende Lerngruppen. Auch wenn es vorab in unserem Umfeld viel Skepsis gegenüber so viel Neuem gab ... Unsere Entscheidung erwies sich als richtig: Henri fühlte sich in der neuen Schule von Beginn an so wohl, dass wir in der vierten Klasse einen Antrag auf Rückstellung gestellt haben - gerade "wiederholt" er in der Montessorischule die vierte Klasse und wenn es nur nach ihm und uns ginge, könnte es noch viele Jahre so weitergehen. Aber leider ist es nur eine Grundschule und spätestens nach der zweiten Rückstellung würde der Wechsel auf eine weiterführende Schule anstehen.
Schon im letzten Jahr haben wir begonnen, uns Schulen in der Region anzusehen: Wir hatten Gespräche mit Lehrern, Integrationshelfern und auch Eltern anderer Schulen - an einer Schule hat Henri hospitiert. Wir haben nicht wenige engagierte Lehrer mit innovativen Konzepten kennengelernt - es gibt mittlerweile an den meisten Schulen erfreulich viel Offenheit. Und dennoch: Beim Gedanken an den bevorstehenden Schulwechsel wurde mir das Herz schwer... und nur meinem Gottvertrauen habe ich es zu verdanken, dass ich nicht völlig den Mut verloren habe... In der Adventszeit kam mir - wie aus heiterem Himmel - eine Art "Eingebung" ... die nach Verwirklichung rief ... Am 8. Dezember hatte Henri bereits um 10.00 h einen Termin in der Kinderkardiologie und die Fahrt zur eine halbe Stunde entfernt gelegenen Montessorischule hätte sich kaum gelohnt. So begleitete er mich um 8.00 h zum Adventssingen an der Waldorfschule... der Schule, wo Marie im vergangenen Jahr ihr Abitur gemacht hat, Elias die elfte und Amelie die vierte Klasse besucht... im angeschlossenen Kindergarten haben alle unsere Kinder - auch Henri - eine wundervolle Kindergartenzeit verbracht. Die Stimmung beim Adventssingen war wie immer sehr anrührend - ein Ruhepunkt in der oftmals hektischen Vorweihnachtszeit. Die Kinder der ersten sechs Klassen sangen Adventslieder, unterstützt und begleitet von Lehrern und Eltern ... und Henri stand mittendrin ... so, als würde er dazugehören... Noch am gleichen Tag nahm ich all meinen Mut zusammen, bemühte mich, Gedanken in Worte zu fassen, die mir - zu diesem Zeitpunkt - fast revolutionär vorkamen. Was heißt "fast"?
Ab dem kommenden Schuljahr wird Henri die Freie Waldorfschule Bexbach besuchen - als erstes Kind mit geistiger Behinderung. Zusammen mit seiner "kleinen" (großen) Schwester Amelie wird Henri dort das fünfte Schuljahr beginnen. Wieder wird ein neuer Weg eine Herausforderung sein: Nicht nur für Henri und uns Eltern, sondern auch für die Schulgemeinschaft, die große fünfte Klasse und insbesondere auch für unseren hochgeschätzten Klassenlehrer, dessen Mut und Einsatz wir die heutige gute Nachricht zu verdanken haben.
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christina (Sonntag, 22 März 2015 15:50)
das freut mich sehr! wie wunderbar sich die dinge nun fügen.
wir erleben eine ähnliche situation, unser jüngster sohn enea durfte in die 2. klasse der waldorfschule münchenstein eintreten. wir waren vor vielen jahren gründungseltern dieser schule.
auch bei uns hat sich der kreis geschlossen und unser enea blüht in dieser wunderbaren schulgemeinschaft richtig auf. er ist ebenfalls das erste integrative kind dort und wir sind sehr dankbar und froh über die offenheit der schule unserem wunsch gegenüber. es ist eine wunderbare erfahrung und ich denke, nicht nur für uns, sondern für die ganze schulgemeinschaft.
glg christina
henri-mittendrin (Mittwoch, 01 April 2015 18:38)
Liebe Christina,
ich freue mich, im Rahmen dieses Blogs auf dich und deine Familie zu treffen! Hat Enea auch Down-Syndrom; hat er zuvor eine andere Schule besucht? Ich würde mich freuen, mehr von euch und eurem Sohn zu hören - gerne auch via PN. Herzliche Grüße in die Schweiz!